Unfallversicherungsschutz auf Wegen
Neue Rechtsprechung
Der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung umfasst auch die Wege von und zur versicherten Tätigkeit. Aber wann bin ich auf dem Weg zur Arbeit versichert und wann nicht? Verliere ich den Versicherungsschutz, wenn ich zwischendurch einen Einkauf erledige oder auf dem Heimweg noch schnell tanke?
Seit Einführung des Wegeunfalls beschäftigen sich Versicherungsträger und Sozialgerichte immer wieder mit diesen Fragen. Ein Ende ist nicht absehbar. Wir stellen neuere Entscheidungen zum Wegeunfallrecht vor.
Schon im Jahr 1925 wurde mit dem „Zweiten Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung“ die Versicherung des Weges nach und von der Arbeitsstätte in das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung aufgenommen.
Man könnte meinen, dass nach mehr als 90 Jahren inzwischen abschließend geklärt sein sollte, was dabei unter Versicherungsschutz fällt und was nicht. Aber schon in der Gesetzesbegründung im damaligen Reichstag erfolgte der Hinweis darauf, dass die Tatbestände für den Versicherungsschutz nicht abschließend gesetzlich geregelt werden können: „Dabei wird allerdings die Frage zu erörtern sein, wie es mit der Unterbrechung der Zurücklegung des Weges bestellt ist usw. Aber das wird die Aufgabe der Rechtsprechung, der erkennenden Gerichte sein; sie werden den richtigen Weg selbst herauszufinden haben. Man kann nicht alles gesetzlich erfassen.“
Betrachtet man die langjährige höchstrichterliche Rechtsprechung zum Wegeunfall, könnte man zur Auffassung gelangen, die erkennenden Gerichte sind bis heute auf der Suche nach dem richtigen Weg.
Die Unterbrechung des Weges – ein Dauerbrenner
Vor allem die Fragen zum Versicherungsschutz bei Unterbrechungen des Weges sind dabei ein Dauerbrenner. Und selbst das höchste deutsche Gericht hat in der Beurteilung dieser Fälle manchen Richtungswechsel vollzogen. War es früher ausreichend, dass man nach der – nicht versicherten – Besorgung den öffentlichen Straßenbereich wieder betreten hatte, haben sich die erkennenden Gerichte von dieser großzügigen Auslegung deutlich abgekehrt. Jüngere Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) versuchen objektivierbare Kriterien herauszuarbeiten, wann genau eine Unterbrechung beginnt und wann sie endet. Aber auch hier lässt das BSG leider immer noch die eine oder andere Frage unbeantwortet.
Wir stellen u. a. zwei Fälle vor, in denen das BSG über private Unterbrechungen des Arbeitsweges mit dem Auto urteilte. In einer weiteren Entscheidung stellt das Gericht fest, dass der Weg zur versicherten Tätigkeit nicht unbedingt mit dem Durchschreiten der Außenhaustür beginnen muss. Ist diese versperrt, kann der versicherte Weg auch mit dem Hinaussteigen aus einem Fenster begonnen werden.
Abstecher zum Bäcker oder Metzger bergen Gefahren
In zwei weiteren Fällen urteilte das BSG über private Unterbrechungen des Arbeitswegs mit dem Auto. In einem Fall hatte der Kläger sein Auto auf dem Arbeitsweg angehalten, um auf der anderen Straßenseite bei einem Bäcker Semmeln für eine Brotzeit zu kaufen. Als er die lange Schlange sah, kehrte er zum Fahrzeug um, stürzte und brach sich die linke Schulter.
Im zweiten Fall hatte die Klägerin auf dem Nachhauseweg beim Metzger eingekauft, das Fleisch zur Beifahrerseite ihres Autos gebracht und war dann auf dem Weg zur Fahrertür gestürzt. Ergebnis: ein gebrochener Oberschenkel und eine gebrochene Hand.
Bei beiden Unfällen habe es sich nicht um einen versicherten Weg – und damit um keinen Arbeitsunfall gehandelt, befand das BSG. Entscheidend sei die „Handlungstendenz“ des Beschäftigten. Danach sei die private Verrichtung erst dann abgeschlossen, wenn der Versicherte tatsächlich seinen Arbeitsweg wieder aufnimmt. Erst dann bestehe Unfallschutz. Auf feste Kriterien, wann eine private Unterbrechung bei einer Autofahrt beginnt (beim Abbremsen, beim Stillstand des Fahrzeugs oder erst beim Aussteigen?) und wann eine solche Unterbrechung beendet und der versicherte Weg wieder aufgenommen wird, wollten sich die Richter allerdings nicht festlegen.
Das beabsichtigte Kaufen von Semmeln bzw. der Einkauf beim Metzger standen nach Ansicht der Richter jedenfalls als rein privatwirtschaftliche Handlung nicht unter dem Schutz der Wegeunfallversicherung. Werde der Weg zum oder vom Ort der Tätigkeit aus eigenwirtschaftlichen Gründen unterbrochen, entfalle der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit und damit der Versicherungsschutz.
Zur Wiederbegründung des Versicherungsschutzes müssten laut BSG erkennbare Handlungen dafür vorliegen, dass die private Unterbrechung tatsächlich beendet sei. Bei einer Unterbrechung des mit dem Kfz zurückgelegten Weges durch eine private Besorgung bestehe diese Handlung in der Fortsetzung der Autofahrt.
In beiden Fällen geschah der Unfall zu einem Zeitpunkt, zu dem die Kläger ihre Fahrzeuge noch nicht wieder erreicht hatten, um damit den ursprünglich mit dem Pkw angetretenen Weg zur Arbeit fortzusetzen. Ob die das Ende der Unterbrechung und die Wiederbegründung des Versicherungsschutzes markierende Handlung bereits im Aufschließen und Einsteigen in das Fahrzeug, im Losfahren oder erst im Einfädeln in den fließenden Verkehr zu sehen wäre, ließ der erkennende Senat allerdings offen. Jedenfalls genüge das bloße Umkehren zu dem geparkten Kfz noch nicht, um die objektiv sichtbare Unterbrechung wieder aufzuheben.
Das höchste deutsche Sozialgericht lässt sich offensichtlich die Tür weiterhin offen, um den „richtigen Weg selbst herauszufinden“, denn: „Man kann nicht alles gesetzlich erfassen.“ Wir halten Sie auf dem Laufenden.
Es muss nicht immer die Außenhaustür sein!
Das Bundessozialgericht sprach einem Mann Unfallversicherungsschutz zu, der beim Klettern auf ein Vordach seines Hauses gestürzt war. Der Versicherte musste zu einem wichtigen beruflichen Termin. Beim Aufschließen seiner Wohnungstür im Dachgeschoss brach der Schlüssel ab. Daher konnte der Mann nicht wie üblich durch das Treppenhaus seine Arbeit erreichen. Durch ein Fenster wollte er auf ein Vordach klettern, um von dort zur Straßen zu gelangen. Dabei rutschte er ab und kam so unglücklich auf, dass er sich das Bein brach. Der Mann stürzte 2,60 Meter in die Tiefe. Der verständigte Notarzt stellte einen Unterschenkelbruch fest.
Das BSG stellte in diesem Fall einen versicherten Wegeunfall fest. Nach der ständigen Rechtsprechung bestehe ab dem Durchschreiten der Außentür eines Hauses Versicherungsschutz.
Sei das Durchschreiten der Haustür nicht möglich, könne ausnahmsweise das Klettern durch ein Fenster der direkte Weg zur Arbeit sein, erklärte das Gericht.
Startpunkt des versicherungsrechtlich geschützten direkten Weges zur Betriebsstätte (als Zielpunkt) sei grundsätzlich die Außenhaustür. Die Außenhaustür als Startpunkt des Weges und zugleich Grenze zwischen dem unversicherten häuslichen Lebensbereich und dem versicherten Zurücklegen eines Weges werde im Interesse der Rechtssicherheit bewusst als „starre“ Größe behandelt, weil sie an objektive Merkmale anknüpfe, die im Allgemeinen leicht feststellbar sind.
Sei die Außentür des Wohnhauses – wie hier wegen der durch den abgebrochenen Schlüssel versperrten Wohnungstür – nicht erreichbar, könne ausnahmsweise auch eine sonstige Gebäudeöffnung (z. B. ein Fenster) die mit der Außenhaustür vergleichbare Grenze zwischen dem unversicherten häuslichen und dem versicherten öffentlichen Bereich bilden und damit Startpunkt des versicherten Weges sein.
Alex Pistauer, Unfallkasse Hessen