Sabrina Busch: Lebst du noch oder inspirierst du schon?
Wenn Menschen mit Behinderung als Inspiration wahrgenommen werden.
Ich saß einmal im Bus und spaßte mit einer Freundin. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, worum es ging, aber höchstwahrscheinlich war es albern und unbeschwert. Irgendeine Beobachtung, eine Datinganekdote, eine Situation
aus der Vorlesung oder dem Seminar. Als meine Freundin ausstieg, lächelte ich vermutlich noch ein paar Sekunden, bevor ich entweder aufs Handy oder in mein Buch schaute.
Woran ich mich noch ganz genau erinnere, ist die Szene, die sich in den wenigen Minuten zwischen dem Ausstieg meiner Freundin und der nächsten Haltestelle abspielte. Der Mann, der sich im Bereich vor der Tür positionierte, um bald auszusteigen, drehte sich um, lächelte mich an und sagte: „Ich finde das sehr bewundernswert, wie schön Sie noch lachen können.“
Während des Schreibens, musste ich tatsächlich wieder Kopf schüttelnd lachen über die absurde Situation, die Aussage und die fragwürdige Erkenntnis dieses Mitmenschen. Ich kann darüber Kopf schüttelnd lachen, weil nun Jahre zwischen uns liegen, die Mittagssonne warm auf meinen Schreibtisch fällt und ich in den sicheren vier Wänden meines Zuhauses sitze.
In dem Moment selbst, wie so oft, fiel mir dazu gar nichts ein. Diese Situationen suchen mich jahrelang heim, weil ich wünschte, ich hätte schlagfertig oder aussagekräftig darauf geantwortet. Mittlerweile bin ich aber sowieso dazu übergegangen, mich nicht auf unbezahlte Aufklärungsarbeit zwischen Tür und Angel einzulassen.
Das kostet mich nämlich immer wieder Energie, Zeit und Kraft.
Ich finde es sehr bewundernswert, wie schön Sie noch lachen können.“
Wieder ein Satz, der unscheinbar um die Ecke kommt, bei näherer Betrachtung aber sein volles ableistisches Potenzial enthüllt.
Zunächst die Wortwahl: „bewundernswert“. Das Wort Wunder sticht sofort heraus, verleiht dem Adjektiv seine zentrale Bedeutung, drückt offensichtlich etwas anderes aus als: schön, ansteckend, mitreißend, belebend etc.
Alles Adjektive, die üblicherweise in Verbindung mit dem Lachen einer Person geäußert werden. Dieses Wunder in „bewundernswert“ lässt auf ein Ereignis schließen, dass fast unbegreiflich ist, vielleicht sogar mit übernatürlichen Kräften in Zusammenhang steht. Mein Lachen ist also ungewöhnlicher, anerkennungswerter als das der anderen.
Das leitet über zu der eigentlichen Aussage des Satzes: „noch“. Ein Adverb, das ausdrückt, dass es sich hier um etwas handelt, was von etwas Ganzem übrig geblieben ist. Das „Ganze“ – also mein vermeintlich nicht behinderter Körper und das „noch“ – der übrig gebliebene Rest.
Und zum Abschluss: „können“. Das ich also imstande bin (Wortspiel unbeabsichtigt …) zu lachen, dazu die Möglichkeit habe und diese auch wahrnehme.
Natürlich hat der Mann sich, bevor er das sagte, nicht mit der Semantik dieses Satzes beschäftigt, so wie ich es jetzt tue. Dennoch hat er gewartet bis meine Freundin ausgestiegen ist und er hat auch nicht einfach nur mein Lachen kommentiert, sondern Worte wie „bewundernswert“ und „noch“ und „können“ gewählt.
Unsere Sprache ist nicht willkürlich, sie erfasst und vermittelt unsere Realität.1
Ableismus ist allgegenwärtig und noch immer ausgeprägt
Immer mal wieder inspiriere ich nicht behinderte Mitmenschen ungewollt dazu, ihr eigenes Leben mehr wertzuschätzen, positiver zu sein oder sich weniger zu beschweren. Sie fühlen sich inspiriert, wenn ich mein Klopapier selbst kaufe, in der Öffentlichkeit lache ja mich überhaupt noch vor die Tür traue.
Stella Young, eine australische Behindertenaktivistin, prägte 2012 den Begriff „Inspiration Porn“. Das Phänomen, wenn Menschen mit Behinderung von ihrer Umwelt als Inspiration wahrgenommen werden, obwohl sie eigentlich nur ihr Leben leben.
In dem Moment also, in dem ich für banale, alltägliche Dinge gelobt werde, reduziert mich mein Gegenüber auf meinen Rollstuhl.
Der "Rollstuhl", das anscheinend immer noch ultimative Symbol des Verderbens. Dass es dieser Rollstuhl ist, der mir ein aktives und abenteuerliches Leben ermöglicht, scheint unbegreiflich.
Und dass mich als Person ganz andere Dinge ausmachen als die Tatsache, dass ich mit dem Rollstuhl unterwegs bin, ebenso.
Der allgegenwärtige Ableismus, der noch immer ausgeprägt in unseren Köpfen wütet, trägt dazu bei, dass sich nicht behinderte Mitmenschen, die sich von mir inspiriert fühlen, automatisch auf eine höhere Ebene stellen.
Sie untermauern diese Hierarchie, die seit Jahrhunderten eine allgemeine Behindertenfeindlichkeit prägt, setzen sie fort
und fühlen sich damit im Recht.
Diese Mauer kommt mir manchmal wie eine unbezwingbare Festung vor, sie schafft eine Trennung in den Köpfen der Menschen und manifestiert sich ebenso in unserer räumlichen und strukturellen Realität. Bauliche Barrieren im öffentlichen Leben sind noch immer allgegenwärtig, der Ausschluss von Menschen mit Behinderung an der Tagesordnung.
Diese Hindernisse erschweren dann doch banale und alltägliche Dinge und erfordern einen höheren Kraftaufwand.
Und plötzlich befinden wir uns in einem Teufelskreis, der sich selbst aufrechterhält, obwohl er durch Barrierefreiheit und Inklusion unterbrochen werden könnte.
Ich stelle mir vor, wie der Mensch aus dem Bus diesen Text und meine Abhandlung über seinen vermeintlich nett gemeinten Kommentar liest. Wie er sich fragt, ob man jetzt eigentlich gar nichts mehr sagen darf?
Oder am besten gar nicht mehr mit Behinderten spricht? Und ich möchte gerne entgegen: Wir sollten alle immer versuchen, miteinander zu sprechen. Respektvoll und zugewandt.
Wenn ein Kommentar an eine Person ohne Behinderung unangebracht erscheint, ist er es ebenso
für die Person mit Behinderung.
1Gümüşay, Kübra. Sprache und Sein. Hanser Berlin, München 5. Auflage 2020. S. 21.
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Mit der Aktion "Dein Start. Unser Ziel." macht die gesetzliche Unfallversicherung gemeinsam mit den BG Kliniken, dem Deutschen Rollstuhl-Sportverband und dem Deutschen Behindertensportverband auf Menschen aufmerksam, die nach einem Unfall mithilfe der gesetzlichen Unfallversicherung und Sport ihrer Leidenschaft nachkommen.
Weitere Informationen dazu und natürlich das Video mit Sabrina Busch finden Sie auf den Webseiten der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung DGUV.
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