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Unfallkasse Rheinland-Pfalz | Studieren mit Behinderung

Der einsame Kampf für Barrierefreiheit

Studieren mit Behinderung in der Praxis

Für mich als Mensch mit Behinderung bietet es sich dringend an, zeitgleich auch die eigene Ärztin, Anwältin und Analytikerin zu sein. Denn der Alltag ist oft so komplex, dass es immer wieder den Einsatz eigener Ressourcen bedarf, um medizinische Rätsel zu lösen, Zugänge einzufordern und relevante Informationen zu beschaffen. Ein Studium stellt das eigene Organisationstalent sowieso schon auf die Probe, aber mit einer Behinderung kommt eine neue Dimension hinzu.

Das kann zunächst einschüchternd wirken, aber ich bin tatsächlich immer gut damit gefahren, das, was ich mir selbst zutraue, einfach mal zu machen. Sobald mir Schwierigkeiten begegnet sind, habe ich versucht, Lösungen zu finden. Es kann Frustrationen auslösen und manchmal ziemlich weh tun, wenn Dinge nicht funktionieren oder die Menschen, mit denen man kommuniziert, kein Verständnis haben. Aber aus meiner Sicht war es auch immer unrealistisch, mich im Voraus auf alle Wahrscheinlichkeiten einzustellen.

Mein Erststudium an der Uni Mainz wollte ich als Rollstuhlfahrerin zunächst genauso fortsetzen wie als Fußgängerin. Irgendwann bemerkte ich aber, dass ich die Anzahl der Kurse reduzieren musste, um Zeit für Sport, Physiotherapie und Pausen zu haben. Das war in Absprache mit meinen Studienberaterinnen und Studienberatern kein Problem. Die Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln war komplizierter, also kümmerte ich mich um eine Zufahrterlaubnis, um auf dem Campus parken zu dürfen und meine Wege kurz zu halten.

Plötzlich musste ich jedoch auch penibel darauf achten, wie die Räume, in denen Seminare und Vorlesungen stattfanden, ausgestattet waren. Auf dem alten Campus der Uni Mainz gibt es noch immer Seminarräume, die nur über Stufen zu erreichen sind. Oftmals sparte ich mir Zeit und Energie und schrieb eine E-Mail oder rief meine Studienberaterinnen und Studienberater an, damit sie mir die Informationen zukommen ließen, anstatt sie in den Tiefen der universitären Webseite selbst zu finden. Idealerweise sollte es eine übersichtliche und leicht zu findende Webseite geben, auf der alle Informationen und Ausstattungen der einzelnen Räumlichkeiten aufgelistet sind. Während meines Studiums stand mir eine detaillierte und gesammelte Auflistung dieser Informationen aber leider nicht zur Verfügung.

Ich beantragte einen EU-Toilettenschlüssel, den ich für die meisten Behindertentoiletten auf dem Campus benötigte. Ich erschien früher zu Seminaren als sonst – für den Fall, dass die Sitzordnung eng war und ich den Platz an der Tür brauchte. Ich verschaffte mir einen groben Überblick über Härtefallanträge zur Rückerstattung des Semestertickets und Nachteilsausgleiche, falls ich mehr Zeit für Hausarbeiten brauchte. Es klappte alles, und die meisten Gespräche mit Zuständigen waren auch freundlich und verständnisvoll. Trotzdem kostete es eben Zeit und Energie. Es fiel mir erst nach einiger Zeit auf, dass mir diese zusätzliche Organisation wegen meiner konfrontativen Natur leichter fällt als anderen Menschen, die zurückhaltender und schüchterner sind. Wenn ich nicht immer auf andere Menschen zugegangen wäre, um ihnen Antworten zu entlocken, wenn ich nicht die Überzeugung gehabt hätte, dass ich einen berechtigten Platz habe, egal wo ich hinmöchte, dann wäre es sehr schwierig geworden, ein barrierearmes Studium zu führen. 

Es gibt immer noch sehr viel auszuhandeln. Vieles wird durch Einzelentscheidungen beschlossen, sodass jeder Kampf im Einzelnen stattfinden und die Energie immer wieder von Neuem aufgebracht werden muss. Diese Einzelentscheidungen, die halbherzigen Lösungen, die engen Grenzen, in denen sich so riesige strukturelle Institutionen bewegen, erschweren es dann doch oft, dass sich flächendeckende Veränderungen einstellen.

Oftmals wird auch vonseiten Nicht-Behinderter kommuniziert, dass ja schon viel getan wird, dass wir auch dankbar dafür sein müssen. Und ich bin auch sehr dankbar, in einem Land zu leben, in dem die Menschenrechte anerkannt und durchgesetzt werden. Immer wieder stößt man jedoch auch in Deutschland auf die Tatsache, dass nicht alle Menschenrechte auch für Behinderte gelten – siehe Behindertenwerkstätten, in denen Löhne weit unterhalb des Mindestlohns gezahlt werden, oder das öffentliche Leben, in dem Zugänge verwehrt werden. Wenn ich dann mit meinen banalen Beispielen aus dem Uni-Alltag ankomme, wirkt das auch zunächst alles aushaltbar. Fordere ich jedoch ein, dass sich meine nicht-behinderten Freunde und Freundinnen sowie Familienmitglieder vorstellen, in ihrem Alltag in genau diesen Situationen zu sein, schütteln alle empört die Köpfe und entrüsten sich darüber.

Ich möchte ein paar Beispiele für solche Situationen nennen. So habe ich mir schon mit dem Dozenten vor versammelter Mannschaft das Pult geteilt, weil es keinen anderen Platz für mich gab. Ich habe schon Toiletten benutzt, die man von innen nicht abschließen konnte – angeblich aus Sicherheitsgründen. Aber wer schützt mich vor dem Herzinfarkt, wenn ich einen weiteren EU-Schlüssel im Schlüsselloch höre?

Ich wurde schon zugeparkt und habe Merkzettel mit dem Hinweis „Behindertenparkplätze sind nicht so groß, weil Behinderte schlecht einparken können, sondern weil sie mehr Platz zum Ein- und Aussteigen brauchen. Mitdenken – Freude schenken“ verteilt. Ich habe schon in Hörsälen ohne Tisch für Rollstuhlfahrende gesessen. Ich habe während Seminaren schon Gebäude verlassen, Flure wechseln und zwei Aufzüge nutzen müssen, um eine rollstuhlgerechte Toilette aufsuchen zu können. Es wurde schon ein Raum verlegt, weil sich der einzige Platz für mich vor dem Notausgang befand und ich somit als Brand- und Fluchtrisiko galt. Ich saß in der Vorlesung schon einmal von einem Stahlgeländer eingerahmt, abgegrenzt von meinen Kommilitoninnen und Kommilitonen.

Ich konnte mich auf einer entsprechenden Plattform nicht regulär zu Praktika für mein Lehramtsstudium anmelden, weil niemand sicher sein konnte, welche Schulen rollstuhlgerecht sind. Tatsächlich ist es so, dass es auf dieser Praktikums-Plattform bis heute keine Möglichkeit gibt, nach barrierefreien Schulen zu filtern. Für meinen Fall gab es eine Sonderregelung: Für mich wurde ein eigens kreierter Praktikumsplatz geschaffen. Allerdings immer noch einer mit Tücken – während des Praktikums konnte ich nur einen Meter des Lehrerzimmers befahren, da mir Tische, Taschen und Stühle den Weg versperrten. Computer und Kopierer waren für mich in unerreichbarer Ferne. Durch die Blume wurde mir dann auch vermittelt, dass wir bestimmte Zusammenkünfte nicht einhalten müssen, weil es räumlich schwierig war. Im Endeffekt war das Praktikum ein Haken im System, aber kein wirklicher Einblick ins Berufsleben, geschweige denn ein Austausch mit Kolleginnen und Kollegen. Das lag wie immer nicht gänzlich an einzelnen Personen, sondern an einem System, in dem keine Lösungen bereitstehen.

Vermutlich habe ich noch viele weitere unangenehme Situationen verdrängt. Aber ich habe auch viel Zuspruch, Verständnis, Hilfsbereitschaft und Unterstützung erfahren. Leider gibt es immer noch zu wenige systemische Lösungen für einen reibungslosen Ablauf, und leider geht das dann zu Lasten der Person mit Behinderung, die sich durch die Barrieren kämpfen muss. Trotzdem habe ich meine Studienzeit als sehr bereichernd empfunden. Und die bereits gemachten Erfahrungen haben mich nicht davon abgehalten, mich in diesem Jahr für ein Zweitstudium einzuschreiben.

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